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Evangelisch jenseits der Karpaten

20. April 2012

Buntes Sittengemälde des evangelischen Gemeindelebens in Altrumänien

Wer im Westen von Deutschen in Rumänien hört, denkt zuerst an die bekannten evangelischen Siebenbürger Sachsen und katholischen Banater Schwaben innerhalb des Karpatenbogens. Dass sich auch in Städten wie Craiova, Brăila und Galatz, Jassy, Konstanza und Tulcea ein reges evangelisches Gemeindeleben entwickelt hat, dass der evangelische Kirchturm von Bukarest über lange Zeit das höchste Bauwerk der Stadt war und die evangelische Diaspora in Altrumänien zahlenmäßig zu den größten evangelischen Diasporagemeinschaften weltweit gehörte, das wissen nur die wenigsten. Und wer rechnet schon damit, dass Kurt Tucholsky in Turnu Severin evangelisch getauft wurde... Ein neuer von Christa Stache und Wolfram G. Theilemann herausgegebener Sammelband schließt nun eine große Forschungs- und Informationslücke.

Der Band aus dem Schiller-Verlag ist voluminös. Doch der interessierte Leser wird sich von diesem Buch nicht losreißen können. Wissenschaftlich auf höchstem Niveau und doch genauso spannend wie allgemeinverständlich geschrieben, führen die Autoren in die Geschichte und Gegenwart der evangelischen Kirchengemeinden des rumänischen „Altreichs" außerhalb des Karpatenbogens ein. Dabei wird ganz beiläufig Sozial-, Regional- und Lokalgeschichte, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte geschrieben. Es entsteht ein interdisziplinär angelegtes Panorama des Lebens der deutschen evangelischen Gemeinden jener Regionen, das nicht nur Kirchenhistoriker begeistern wird.

Der Band hat eine klare Dreiteilung. Nach dem einleitenden Beitrag der Herausgeber zu Themenrelevanz, Forschungsstand und Konzeption des Bandes folgt der erste Hauptabschnitt „Zur historischen Entwicklung" (S. 41-266). Dem schließt sich der Abschnitt „Zur archivalischen Überlieferung" (S. 267-404) an. Den nochmals überaus spannenden dritten Teil bildet eine Quellensammlung (S. 405-596). Auch der Anhang bietet noch wertvolle Informationen wie etwa „Chronologien zur Geschichte der deutsch-evangelischen Stadtkirchengemeinden in Altrumänien (ca. 1840-2010)" (S. 603-629). Eine ungeheure Fleißarbeit stellen auch die Kurzbiografien aller erwähnten Pfarrer mit Fußnoten dar.

Themen und Personen

Der historische Abschnitt behandelt Themen und Personen in Längsschnitten und Einzeldarstellungen. Dabei wird sehr hintergründig analysiert, wie diese Gemeinden im 19. Jahrhundert vom Preußischen Oberkirchenrat betreut wurden und sich dann 1906 zu einem Synodalverband zusammengeschlossen haben. Das nicht immer unproblematische Verhältnis zur Evangelischen Kirche in Siebenbürgen vor und nach dem Anschluss an diese Kirche kommt mehrfach zur Sprache. Der Niedergang vieler dieser Gemeinden noch in der Kriegszeit und die besondere Lage im Kommunismus werden mit der nötigen Tiefenschärfe analysiert.

Viele Fragestellungen und Probleme wiederholen sich in Geschichte und Gegenwart. Zum Beispiel die Bemühungen um ein deutsches evangelisches Schulwesen zur Aufrechterhaltung der sprachlich-nationalen und kulturell-konfessionellen Identität, die Problematik der Mischehen und der Zweisprachigkeit im Gemeindeleben und Gottesdienst, soziale Probleme in den Gemeinden und vor allem auch die großen Unterschiede zwischen einigen sehr reichen und vielen armen Gemeinden.

Der Band macht die große Bedeutung der evangelischen Gemeinden im rumänischen Altreich deutlich. Wenn 1879 etwa in Bukarest 4000 evangelische Seelen gezählt wurden, so waren das doppelt so viele wie in den sechs stärksten Auslandsgemeinden im Osmanischen Reich zwischen Konstantinopel und Kairo zusammen. 1908 schätzte man die Zahl der evangelischen Gemeinden und Filialen auf 54 mit bis zu 20.000 Gläubigen. Stache und Theilemann machen deutlich: „Von der Mitte des 19. Jahrhunderts an bis 1944 beherbergte Rumänien eine, wenn nicht die größte deutsch-evangelische Auslandsdiaspora in Europa." (S. 26)
Die Anfänge der deutschen evangelischen Gemeinden reichen wie im Falle Bukarests bis ins 17. Jahrhundert zurück. Das Thema der Auslandsdiaspora wurde 1853 in die öffentliche kirchliche Diskussion in Deutschland eingeführt, worauf Christa Stache in ihrem Beitrag hinweist. Sie hält fest: „Preußen übernahm gern die Fürsorge für die deutschen evangelischen Auslandsgemeinden, unterstrich es damit doch seinen Führungsanspruch innerhalb des deutschen Protestantismus." (S. 43) Wichtig waren in diesem Zusammenhang die Besuchsreisen von Eduard Hengstenberg 1857, Wilhelm Noël 1880 und Hermann Kapler 1906. In diesem Jahr kam es dann auch zur Gründung des Synodalverbandes der unteren Donau.

In den geschichtlichen Längsschnitten wie in den entsprechenden Quellentexten werden all diese Entwicklungen transparent, auch das Bemühen um den Bau von Kirchen und eigenen Gebetsräumen. Auch die sehr variierende Wahrnehmung dieser Gemeinden in Preußen wird deutlich, von Hengstenbergs unverhohlener Ablehnung und scharfer Kritik an den Menschen und Zuständen in der „wilden Walachei" bis hin zu warmherzigen Würdigungen. Immer wieder taucht auch das Problem in all den Gemeinden außer Bukarest auf, überhaupt Pfarrer zu bekommen, die der schwierigen Arbeit etwa in den Landgemeinden der Dobrudscha gewachsen sind. Der Wunsch nach geregelter Versorgung mit Pfarrern war ein Motiv für die Anlehnung an die preußische Landeskirche im 19. Jahrhundert, wie Stache herausarbeitet. Die Aufsätze und Quellen legen auch die Beziehungen zur jeweiligen politischen Obrigkeit dar.

Der Anschluss aller Gemeinden an die Evangelische Kirche in Siebenbürgen bis 1920 und die sehr zurückhaltende Aufnahme in Siebenbürgen werden auch vor dem Hintergrund mancher Ablehnung im 19. Jahrhundert dargestellt. Gemeinsam war den Gemeinden ihre „extreme Diaspora – langdauernde Verlassenheit in der Fremde, ..., aber auch zwischen den Gemeinden", wie Theilemann festhält. Die siebenbürgische Kirche freilich „scheint für diese Gläubigen seit dem 18. Jahrhundert ... kaum Sympathie, gelegentlich Ignoranz, teilweise sogar scharfe Ablehnung aufgebracht zu haben" (S. 73 ff) .

Neben den Längsschnitten halten auch die Einzeldarstellungen hochinteressante Erkenntnisse bereit. Dabei geht es unter anderem um die Gemeinden in der Dobrudscha, um die Gemeinden in Atmagea und Bukarest sowie um einen der wichtigsten Pfarrer jener Gemeinden, Hans Petri (1880-1974). Die Autoren aus Deutschland und Rumänien wie Daniel Banner, Udo W. Acker, Andrei Pinte und Daniel Zikeli sowie die Herausgeber werten viele Quellen aus und bringen auch eigene Forschungsergebnisse ein.

Zur Archivlage äußern sich Wolfram Theilemann und Wolfgang Knackstedt. Theilemann beschreibt detailliert die Situation in Râmnicu Vâlcea, Bukarest, Jassy, Ploieşti, Galaţi und Konstanza. Er benennt auch die Faktoren, die zu Archivschäden geführt haben, von direkten Kriegsfolgen über Beschlagnahmungen und Erdbeben bis hin zu unsachgemäßer Lagerung.

Die sorgfältig ausgewählten Quellentexte wirken wie die Krönung des Bandes. Es handelt sich um Auszüge aus Reiseberichten von Vertretern des Oberkirchenrates aus den Jahren 1857, 1880 und 1906, Quellen zur Situation in den Gemeinden anlässlich der Visitationsbesuche von Bischof Teutsch (1921-1925) sowie Quellen aus den Gemeinden und Kirchenbezirken von 1939 bis 1977. Diese Texte wirken wie ein geschriebenes Bilderbuch aus den Gemeinden. Sie berichten von beschwerlichen Reisen, rührenden Begegnungen und allenthalben anzutreffenden Problemen der Diaspora, auch von den sehr unterschiedlichen Prägungen der Gemeinden zwischen dem Pietismus ethnisch homogener Dobrudscha-Dorfgemeinden und dem völlig anderen Zuschnitt der Gemeinden in Handelsstädten wie Turnu Severin oder Galaţi.

In einem Pressebericht zur Visitationsreise von Bischof Teutsch heißt es 1921 einmal: „Wer einen tiefen Blick in dieses so stille, so schwer ringende evangelische Diasporaleben tun kann, der tue es. Es wird ihm zum Erlebnis." (S. 514) Der vorliegende Band ermöglicht jetzt mehr als nur einen solchen Blick. Dieses wunderbare Buch wird als Standardwerk in die Forschung eingehen. Es setzt in Konzeption, Form und Inhalt Maßstäbe. In Gestaltung und Ausstattung haben sich Anselm Roth und der Schiller-Verlag hier selbst übertroffen. Den Herausgebern, den Autoren und dem Verlag kann nur Dank gezollt werden, besonders Wolfram Theilemann, dem langjährigen Leiter des Zentralarchivs im Friedrich-Teutsch-Haus, einem unermüdlichen Förderer der Beschäftigung mit der evangelischen Diaspora in Altrumänien und Initiator dieses Bandes. Chapeau! Wir warten jetzt auf eine vergleichbare Darstellung der evangelischen Gemeinden des Banats.

Dr. Jürgen Henkel (aus der ADZ vom 20.4.12)

weiterführende Links


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