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Patrioten

9. November 2012

„Patrioten" hat Peter Scheiner seinen Erstling genannt, den der Schiller Verlag kürzlich vorlegte, und der geneigte Leser muss das Buch schon zu Ende zu lesen, um die Bedeutung dieses Titels zu verstehen. Wer sich auf das Leseabenteuer einlässt, wird mit überraschenden Einblicken nicht nur in eine „siebenbürgisch-deutsche Familiengeschichte", so der Untertitel des neuen Buches, aus den letzten gut einhundert Jahren belohnt, sondern wird auch ein breites Gesellschaftspanorama einer Zeit entdecken, über die nur selten so viele Einzelheiten aufgeschrieben wurden, wie Peter Scheiner es tut. In Kronstadt wurde der Autor, Sohn von Eitelfritz Scheiner und der Mediascherin Gertrud Bell, in zwei traditionsreiche sächsische Familien hineingeboren, und er teilte das Schicksal der meisten Siebenbürger Sachsen: ein Wanderleben quer durch Europa. Heute zurückgezogen im Elsass lebend, stellt sich der Achtzigjährige wie viele andere seiner und der nachfolgenden Generationen die Frage nach dem Woher und dem Wohin.

Überraschung zum 18. Geburtstag

In seiner Familiengeschichte legt Scheiner diese Fragen einer nachgeborenen Nichte in den Mund bzw. die fiktive Feder, die in den 1980er Jahren, an ihrem 18. Geburtstag, überraschende, ja schockierende Nachrichten über ihre Familie erfährt, die zu verarbeiten sie sich nun genötigt sieht. Dabei setzt Petra Roth, wie sie im Buch heißt, die Lebensspuren ihrer Vorfahren zu einem Puzzle zusammen. Dass es streckenweise eine Knobelei werden wird, den Lebenslinien dieser teils recht eigenwilligen Menschen aus Siebenbürgen und aus Deutschland zu folgen, lässt schon der fulminante Buchanfang erahnen.

teilfiktionalen Stammbaum mitgeliefert

Damit das Verwandtschaftsgeflecht nicht völlig unübersichtlich bleibt, stellt der Autor seinem Buch einen Stammbaum der Ich-Erzählerin voraus, in dem allerdings einige der Namen - vor allem die Familiennamen, aber hie und da auch ein Geburtsjahr oder ein Vorname - verändert sind. So fühlt sich der Leser, der als Freund der Memorialistik gewiss auch etwas von einem Voyeur in sich trägt, versucht, die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit nachzuziehen. Dabei gerät er schnell in den Sog von Scheiners Erzählung, die in klarer und unverkünstelter Sprache daherkommt, und folgt ihm auf dem Gang durch Raum und Zeit, durch Siebenbürgen und Deutschland, vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in das Jahr 1990, als mit dem Fall des diktatorischen Regimes in Bukarest auch eine jener als unumstößlich geltenden Aussagen fiel, nämlich dass es kein Ende dieser Schreckensherrschaft geben werde.

Spross zweier bekannter siebenbürguscher Familien

Der Lebensweg von Georg Peter Scheiner, der im Roman Georg Roth heißt, führt ihn auch nach Mediasch, der Heimat seiner Mutter, wo seine Freunde Günther und Dieter Folberth zu dem Personenkreis gehören, über die nicht in Rätseln gesprochen wird. Das ist schon anders bei Gertrud, der „Tochter einer ebenso wohlhabenden wie angesehenen Mediascher Familie. Ihr Vater war Arzt, die Mutter Erbin einer großen Eisenwarenhandlung mit einer Zweigniederlassung in Blasendorf, der Bruder studierte in Heidelberg Medizin und die Schwester hatte gerade einen Theologen geheiratet, der Professor - so nannte man dort die Lehrkräfte - am Stefan-Ludwig-Roth-Gymnasium war. Gertrud, die als einziges Mediascher Mädchen ihres Jahrgangs das Gymnasium besuchte, in das sonst nur Jungen gingen, und es mit einem blendenden Abitur beendete, hatte es sich in den Kopf gesetzt, in Berlin die Schauspielschule zu besuchen."

Fleißiges Personenraten

Da darf nun fleißig geraten werden, um wen es sich handelt. Doch möge der geneigte Leser sich durch diesen Hinweis nicht in die Irre führen lassen: Das Buch taugt zu viel mehr, als zu fröhlichem Personenraten. Am Ende wird er um einiges besser verstanden haben, was es mit den schicksalhaften Verstrickungen der Deutschen und der Siebenbürger Sachsen im 20. Jahrhundert auf sich hatte. Und spätestens dann wird er den als Metapher gemeinten Titel des Buches verstehen, der den Bogen schlägt zu dem in Martin Opitz Wort quasi verewigten Selbstverständnis unserer siebenbürgischen Vorfahren als „germanissimi germani."

Wiederaufbau der Stolzenburg

Die Rede ist von einer Stiftung zum Wiederaufbau der Stolzenburg, die metaphorisch für eine Rückkehr der Sachsen in ihre angestammte Heimat nach Fall des Eisernen Vorhangs steht, den gerade die nachgeborene Petra für möglich und nötig hält.

Lassen Sie sich also überraschen von den "Patrioten".

Hansotto Drotloff, Mediascher Infoblatt, November 2012

weiterführende Links


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