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Auf den Spuren des jüdischen Temeswar

26. April 2023

Der gleichnamige Stadtführer von Getta Neumann aus dem Schiller Verlag präsentiert Geschichte und Sehenswürdigkeiten der Stadt aus jüdischer Perspektive

Von Jürgen Henkel

Temeswar. Das Judentum hat in Rumänien von der Bukowina über Bukarest und Siebenbürgen bis hin zur Banater Metropole Temeswar immer eine ganz besondere Rolle gespielt – ökonomisch, gesellschaftlich, politisch, religiös und kulturell. Mit Temeswar rückt in diesem Jahr eine Stadt als „Europäische Kulturhauptstadt" in den Fokus, in der vor allem in der Stadtentwicklung der Gründerzeit jüdische Persönlichkeiten stets präsent und prägend waren. Mit ihrem Buch „Auf den Spuren des jüdischen Temeswar" hat die daselbst geborene Getta Neumann, die Tochter des früheren Oberrabbiners Dr. Ernest Neumann (1917-2004), im Schiller Verlag ein ganz außergewöhnliches wie beeindruckendes Buch vorgelegt, das den Rahmen eines normalen Stadtführers bei weitem sprengt; nicht umsonst ist das Werk untertitelt mit „Mehr als ein Stadtführer".

Der 288 starke und mit zahlreichen historischen und aktuellen Abbildungen opulent ausgestattete Band im Hochglanzdruck erschließt die Stadt aus jüdischer Perspektive und zeigt durchgehend, welchen großen Beitrag auch die Juden zur Entwicklung der Stadt geleistet haben. Es entsteht neben einem profilierten Stadtporträt en passant auch eine wahre Enzyklopädie des Judentums von Temeswar. Getta Neumann geht systematisch und gut strukturiert vor und skizziert zunächst die Geschichte der Juden in Temeswar, das sie als „ethnisch-linguistisch-religiöses Mosaik" kennzeichnet, wobei sie auch das Attribut „Klein-Wien" erklärt, unter anderem mit „Wiener Flair" und dem Baustil vom Barock bis zum „überbordenden Sezessionsstil".
Das älteste Zeugnis der Anwesenheit von Juden ist das Grabmal von 1636 des Azriel Assael. Vom Judenkarree im 18. Jahrhundert mit nur 49 zugelassenen jüdischen Familien in der Festung führte ein steiniger Weg zum Bürgerrecht nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867. Neumann dazu: „Die Juden wurden zu Bürgern mit gleichen Rechten. Sie engagierten sich auf allen Gebieten des Wirtschafts-, Handels- und Kulturlebens, gründeten Unternehmen, brillierten in den liberalen Berufen, als Ärzte, Rechtsanwälte, Journalisten, Künstler usw." (S. 13) Vor allem die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erlebte jüdische Architekten, Stadtplaner und Unternehmer in höchst verantwortlichen und einflussreichen Positionen.

Nach dem Übergang Temeswars und des östlichen Banats an Rumänien garantierte auch die neue Verfassung von 1923 den Juden gleiche Rechte. Dass der Südteil Siebenbürgens und des Banats nach dem Wiener Schiedsspruch von 1940 bei Rumänien verblieben, bedeutete nach Neumann „die Rettung für die Juden aus Temeswar, die dadurch vor der Deportation in die Vernichtungslager bewahrt wurden" (S. 14). Wobei auch die faschistische Antonescu-Regierung Rumäniens von 1940 bis 1944 eine Reihe antisemitischer Gesetze erließ, die örtliche Juden betrafen. Letztlich führte allerdings erst die kommunistische Epoche zur massenweisen Auswanderung. Seit 1989 kann sich jüdisches Leben wieder völlig frei entfalten. Derzeit leben etwa 600 Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Temeswar.
Ausführlich widmet sich der Band den Synagogen der Stadt und zeichnet deren Baugeschichte, Ausstattung und Bedeutung hintergründig nach. Die Synagoge in der Innenstadt stellt die Autorin dabei als eines der bedeutendsten religiösen Bauwerke der Stadt heraus (S. 31 ff). Ein eigenes Kapitel widmet sich dem jüdischen Friedhof. Die Rundgänge in der Stadt beschreiben dann detailliert alle Sehenswürdigkeiten: öffentliche Gebäude und prachtvolle Palais und Privathäuser, Brunnen, Brücken und sonstige Anlagen. Im Einzelnen werden das ehemalige „Judenkarree", die Innenstadt und das historische Zentrum sowie die Fabrikstadt, die Josefstadt und die Elisabethstadt als Stadtviertel präsentiert.

Sämtliche wichtigen Objekte werden beschrieben, wobei die kirchlichen und nicht-jüdischen Institutionen und Bauten angesichts der Zielsetzung dieses speziellen Stadtführers erwartungsgemäß eher knapp abgehandelt werden. Umso wuchtiger erscheint dieser Stadtführer denn auch als eine Visitenkarte des jüdischen Lebens in Temeswar. Der Band bleibt nicht bei Bauten stehen. Auch Unternehmen und Geschäfte, das religiöse, soziale und kulturelle Leben, Sitten, Feste und Gebräuche, eine Übersicht über wichtige jüdische Persönlichkeiten und Schicksale und ausführliche Porträts besonders herausragender Vertreter des jüdischen Lebens der Stadt bereichern diesen Band. Alles mit ausgiebigem Bildmaterial versehen; aktuelle und historische Fotos und auch alte Postkarten illustrieren die Darstellung eindrucksvoll. Im Serviceteil sind schließlich Kontaktdaten und sogar Kochrezepte zu finden, dazu ein Namensindex, eine umfangreiche Bibliographie und einschlägige praktische Informationen.

Getta Neumann ist mit diesem Band ein großer Wurf gelungen, der dank des Schiller Verlags in der exzellenten Übersetzung von Werner Kremm auch auf Deutsch vorliegt.

Getta Neumann: Auf den Spuren des jüdischen Temeswar – Europäische Kulturhauptstadt 2023. Mehr als ein Stadtführer. Übersetzung aus dem Rumänischen: Werner Kremm; Schiller Verlag, Bonn-Hermannstadt 2021, 288 S., zahlreiche Farb- und S/W-Abb., ISBN 978-3-946954-92-7, Lei 109/€ 22,90 (auch in englischer Variante erhältlich: Jewish Timisoara – European Capital of Culture 2023. More than a guide; ISBN 978-3-949583-07-0)

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