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Lebenserfahrungen einer sensiblen kritischen Zeitzeugin in Ost und West (II)

10. Dezember 2011

Von: Ingmar Brantsch

Zu Bettina Schullers Erzählungsband „Transsylvanien Spielplatz der Gedanken" , Schiller Verlag Hermannstadt/Sibiu-Bonn 2010, 171 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-941 271-38-8

Kein Wunder, dass Bettina Schuller, die schon als Kind sehr aufgeweckt war, erfahrungsfreudig wie alle Kinder, aber auch schlagfertig – wie leider nicht allzu viele Kinder, da die meisten Kinder in Siebenbürgen oft streng erzogen werden – in diesem Elternhaus ihre kecke, meist genauso anzügliche wie humoristische Ader ungehindert entwickeln konnte. Von ihrem Vater, zu dem sie ein besonders enges Verhältnis hatte, wurde sie dabei noch ermuntert.
Ebenfalls kein Wunder ist aus diesem Grunde auch, dass eine der schönsten und auch poetischsten Geschichten diesem innigen Vater-Tochter-Verhältnis gewidmet ist.

In der Erinnerung „Die Sonne und ich" ruft Bettina Schuller Bilder aus den Zeiten ihrer Sommeraufenthalte am Schwarzen Meer, in Costineşti zwischen dem 5. und 11. Lebensjahr in ihr Gedächtnis. Da verbrachte Bettina Schullers Familie in dieser Zeit regelmäßig ihre Sommerfrische.

Hier schließt das äußerst sensible Stadtkind mitten auf dem Lande, am Rande des Meeres, eine einmalige unglaubliche Partnerschaft mit der Sommersonne der Urlaubszeit, der Freizeit, der Freiheit allgemein. Eine Sonnenstraße kam haargenau zu den Füßen des Mädchens und bewies ihm, dass goldenes Glück zielgenau in den grauen Alltag zu finden vermag, wenn man nur die nötige Sensibilität der Wahrnehmung dafür aufbringt, dies einmalige Geschenk zu erkennen und anzunehmen.

Eine ganz andere Erinnerung von fast tragischer Abgründigkeit beinhaltet die schon beinahe zynisch übertitelte Geschichte „Das beliebte Spiel".
Dies beliebte Spiel ist nichts anderes als das hemdsärmelige, derb handgreifliche Schinkenklopfen. Ein niederkniender Spieler legt seinen Kopf in den Schoß eines Sitzenden und reckt dabei seinen Allerwertesten in die Höhe, sodass kräftig auf diesen gehauen werden kann.

Dieser an Herta Müllers und Theresa Moras, um nur zwei bekannte, ebenfalls aus Osteuropa (Rumänien und Ungarn) stammende erfolgreiche Autorinnen der Bundesrepublik zu nennen, wie auch an Gerhard Roths, des Österreichers Schilderungen, der mitunter hemmungslosen Grausamkeiten in verschworenen Dorfkollektiven erinnernde Text ist die vielleicht intensivste Prosa überhaupt, die Bettina Schuller bis jetzt über die Einmaligkeit und Gefährdung des Individuums in Situationen kollektiver Vereinnahmung verfasst hat.

Ihr Vater wird in dieser Erzählung, gerade auch wegen seiner intellektuellen rechtsanwaltschaftlichen Brillanz, seiner weltmännischen Eleganz und seiner geistigen Großzügigkeit gegenüber auch von Sonderbarkeiten und Überraschungen Jugendlicher und Außenseiter zum unbewussten intellektuellen Provokateur in einer sonst recht behäbigen, biederen ganz und gar mittelmäßigen Geborgenheit einer im Konventionellen verwurzelten Gemeinschaft.

Er wird zum tragisch-ironischen Symbol der Freiheit, ja gewissermaßen ihr auch Schmerzen ertragender Fackelträger, denn schon seine Art, sich zu geben, seine einfache Existenz ist für unbedarfte Biedermänner schlichtweg ein Ärgernis. Er wird zum Risiko und zum Provokateur, denn wenn man sich mit ihm geistig messen müsste, müsste man sich in Frage stellen. Und das will man natürlich nicht, und um dies zu vermeiden, ist einem jedes Mittel der Ausgrenzung recht.

Kein Wunder auch, dass am Schluss dieses dramatischen Prosatextes – fast schon anzusiedeln in die Problematik des Psychoterrors eines Stephen Kings, der Hinweis erfolgt, dass dem gutgläubigen, schicksalsergebenen, immer fairen und sich für seine Familie und Freunde aufopfernden Vater auch die Russlanddeportation zur Zwangswiederaufarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht erspart bleibt.

Eine ebenfalls abgründige Geschichte ist „Eine wichtige Erfahrung (Brief an die Enkelin.)" Hier werden ihren Großeltern die Möbel gepfändet.
Ihr Großvater ist ein höchstgebildeter und erzgescheiter Mann, der Werke im Original in einigen Sprachen lesen kann. Aber er ist zu gewissenhaft gebildet, sodass er meint, als Buchhändler um die Bildung seiner Landsleute besorgt, diesen nur niveauvolle Bücher verkaufen zu dürfen, wie beispielsweise Oswald Spenglers Zeitgeistbestseller „Der Untergang des Abendlandes".

Von diesem Titel gelingt es ihm gerade mal drei Exemplare zu verkaufen, während die beiden anderen Konkurrenzbuchhandlungen mit Marlitt und Courths-Mahler und ähnlicher Unterhaltungsliteratur florieren.
So ist es unausweichlich, dass Großvaters Buchladen pleite gehen muss, er die Miete nicht mehr zu bezahlen imstande ist und der Pfändungswagen angefahren ist und mit dem Mobiliar der Großeltern Stück für Stück gefüllt wird. Dies vor den Augen der gerade auf Besuch gekommenen Autorin, die als unschuldiges Kind aus behüteter Familie noch nie etwas auch nur annähernd Ähnliches zu sehen bekommen hat.

(Fortsetzung folgt)

ADZ am 10.12.2011

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