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Auf der Suche nach dem jüdischen Sathmar

27. August 2010

Simon Geissbühlers Neuerscheinung „Spuren, die vergehen"

„Die Spuren waren zurückgeblieben. Aber die Zeit würde sie allmählich verwischen, und es wird nichts zurückbleiben", mit diesem Zitat des deutsch-jüdischen Schriftstellers Edgar Hilsenrath wird das Buch eingeleitet. Der Autor Simon Geissbühler, Erster Mitarbeiter der Schweizer Botschaft in Bukarest, hat sich in drei Reisen nach Sathmar und Umgebung aufgemacht, um dort nach den vergehenden Spuren des jüdischen Lebens zu suchen, das im Holocaust fast vollständig ausgelöscht wurde.

Und er wurde fündig: Zum Beispiel in Sathmar, wo eine Synagoge mittlerweile von Wohnblocks eingezwängt wird, in Atea an der Grenze zu Ungarn und der Ukraine, wo auf einem Friedhof nur noch ein einziger intakter Grabstein hinter Stacheldraht steht, oder in Coltirea, wo er zufällig ein Gräberfeld entdeckt, das bisher in keinerlei Büchern und Listen angegeben war.

Auf diese oftmals ungewisse Spurensuche lässt man sich beim Lesen gerne ein. Zwar ist der 1973 geborene Geissbühler unter anderem studierter Historiker und hat sich schon mehrmals mit den Juden in Osteuropa beschäftigt, sein Buch aber erhebt keine gehobenen wissenschaftlichen Ansprüche und stellt auch keine umfassende Abhandlung über die Juden in Sathmar dar.

Vielmehr ist es ein persönlicher, bebilderter Reisebericht über die Suche nach den jüdischen Spuren, dem damaligen Leben, das er immer wieder vor dem inneren Auge vorbeilaufen lässt, und die Suche nach der Antwort auf die Frage: Was bedeutet Heimat? „Es ist etwas anderes, zu Hause heimatlos zu sein als in der Fremde, wo wir in der Heimatlosigkeit ein Zuhause finden können", mit diesem Zitat von Imre Kertész beschreibt er wohl am besten das Dilemma der Sathmarer Juden, sowohl das der zahlreich nach New York City ausgewanderten, als auch das der wenigen zu Hause gebliebenen Juden.

Der Autor hinterlässt aber nicht nur Fragen, er schildert auch präzise die von gesellschaftlicher Akzeptanz geprägte Geschichte der Juden in Rumänien bis zur Deportation, beschreibt eindrücklich Land und Leute, kritisiert die fehlende Vergangenheitsbewältigung hierzulande und beklagt die Nichtbeachtung und Vernachlässigung der jüdischen Friedhöfe und Synagogen. Mit seinem Buch erinnert er zumindest an diese bald vergangenen Spuren: „Ich habe den Zerfall gestoppt – natürlich nicht den realen Zerfall, denn ich reise mit dem Notizbuch und nicht mit dem Spaten, der Axt und der Säge, sondern den Zerfall der Erinnerung an die jüdische Präsenz, an das Leben, an die Vielfalt. Und natürlich ist der Zerfall nur gestoppt für einen Augenblick – bis dieses Buch keine Leser mehr hat, bis es zerfällt, sich auflöst in Fetzen, Partikel. Bis dann aber – immerhin – gibt es wieder eine Erinnerungsspur. Jeder, der diese Zeilen liest, trägt die Erinnerung weiter."

von Markus Heide, aus der ADZ vom 27.08.10


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